Meinung

Das US-Imperium ist gefallen – in Washington weiß man es vielleicht nur noch nicht

Die Uhr zurückzudrehen, um das US-Reich so wiederherzustellen, wie es vor Donald Trumps Präsidentschaft war, ist eine sprichwörtliche Sisyphos-Arbeit: Es gehört bereits der Vergangenheit an – und der Sturm auf das Kapitol war bloß der Halm, der dem Kamel das Rückgrat brach.
Das US-Imperium ist gefallen – in Washington weiß man es vielleicht nur noch nichtQuelle: AFP © Brendan Smialowski

von Nebojša Malić

Sie müssen mir aber auch nicht aufs Wort glauben, denn:

"Wenn es einen Startschuss für die post-US-amerikanische Ära geben sollte, dann ist er mit ziemlicher Sicherheit am heutigen Datum gefallen."

So argumentierte schließlich kein Geringerer als der Chef des Council on Foreign Relations – der führenden Denkfabrik im Dienste des Washingtoner Imperiums – nach  der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar durch mehrere Hundert Trump-Anhänger, die gegen die Bestätigung zugunsten Bidens Wahlsieg protestierten. Hier der dramatisierende Abgesang von Richard Nathan Haass in Gänze:

"Wir sehen Bilder, von denen ich nie gedacht hätte, dass wir sie in diesem Land jemals sehen würden – in irgendeiner anderen Hauptstadt ja, aber nicht hier. Wahrscheinlich wird niemand in der Welt uns wieder auf die gleiche Weise ansehen, respektieren, fürchten oder sich auf uns verlassen. Wenn es einen Startschuss für die post-US-amerikanische Ära geben sollte, dann ist er mit ziemlicher Sicherheit am heutigen Datum gefallen."

Neben Haass meldete sich – wie nicht anders zu erwarten – auch der NATO-Generalsekretär mit einem Tweet über die "schockierenden Szenen" in Washington und forderte, dass die Wahl von Joe Biden zum US-Präsidenten "respektiert werden muss." Britische und französische Staatsoberhäupter folgten diesem Beispiel, ebenso wie die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Die Türkei "äußerte Besorgnis", Kanada und Indien meldeten sich zu Wort.

Sogar Venezuela schaltete sich zu – mit einer Verurteilung der "Gewalttaten" in Washington ebenso wie der "politischen Polarisierung" in den USA. Gleichzeitig äußerte man dort aber auch die Hoffnung, dass die US-Amerikaner "einen neuen Weg zu Stabilität und sozialer Gerechtigkeit einschlagen können."

Gerade zu Venezuela sollte man bedenken: Die USA weigerten sich nicht nur, Venezuelas gewählten Präsidenten oder das Parlament anzuerkennen, sondern in den letzten zwei Jahren versuchten sie unentwegt, stattdessen einen nicht gewählten "Interimspräsidenten" zu installieren; das Ergebnis hätten sie dann wohl als "Demokratie" bezeichnet. Obwohl die Trump-Regierung bei diesen Bemühungen federführend war, sind stets auch die Demokraten – bald offiziell im Besitz der absoluten Macht in den USA – voll mit an Bord.

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Ebenso bezeichnend ist, dass es das einzige Mal war, dass sich das republikanische Establishment und der demokratische "Widerstand" fast unisono zusammenschlossen, als es Trumps Veto  gegen das NDAA-Militärfinanzierungsgesetz für das Rechnungsjahr 2021 zu überstimmen galt. Denn dieser Gesetzesentwurf enthielt schließlich eine Bestimmung, die ihn oder auch jeden zukünftigen Präsidenten daran hindern wird, die US-Truppen aus den endlosen Kriegen der USA in Übersee abzuziehen, ohne vorher die Zustimmung des Kongresses zu erbitten. Die Reichshörigkeit sitzt tief in den Köpfen der Bewohner des Washingtoner "Sumpfes", wie Trump ihn zu nennen pflegte.

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Besondere Aufmerksamkeit verdient auch ein Teil der obigen Aussage des CFR-Mitglieds Haass, der hier deswegen ein weiteres Mal zitiert wird:

"Wir sehen Bilder, von denen ich nie gedacht hätte, dass wir sie in diesem Land jemals sehen würden – in irgendeiner anderen Hauptstadt ja, aber nicht hier."

Dieses unfreiwillige Bekenntnis zum "US-amerikanischen Exzeptionalismus" besagt im Grunde, dass es in Ordnung ist, wenn von den USA unterstützte Aktivisten die Parlamente von "Regimen" stürmen, die dem offiziellen Washington missfallen und die man darum ändern will – doch wenn US-Amerikaner gegen ihre eigene Regierung rebellieren, von der sie glauben, dass sie unrechtmäßig handelt, dann sprengt das jedes Maß.

Obwohl das, was am Mittwoch geschah, keine wirkliche "farbige Revolution" war, so waren dennoch die visuellen Eindrücke immerhin ähnlich genug, dass die ganze Welt davon Notiz nahm. Es wäre dennoch falsch, den "Aufstand" im Kapitol für den Untergang des US-amerikanischen Imperiums verantwortlich zu machen: Hier ist lediglich der letzte Dominostein umgefallen.

Nochmals, auch hierzu müssen Sie sich nicht allein mit meinem Wort begnügen – hier ist Ishan Tharoor, ein Kolumnist bei der notorisch dem Establishment hörigen Washington Post. Er erklärte am Donnerstag, dass für "viele im Ausland" die Vision von den USA als der erleuchteten Stadt auf dem Hügel mit einem entsprechenden globalen moralischen Einfluss und ihrer Autorität "bereits [zuvor] tausend Tode gestorben ist".

Und für einige dieser Leute, argumentiert Tharoor, war dieses Narrativ "schon immer eine Illusion, mit der die von Washington inszenierten Putsche und die Militärregime in seinen Satellitenstaaten verhüllt werden sollten." In der Tat.

Die Demokraten und ihre neokonservativen Verbündeten verbrachten die vergangenen vier Jahre damit, Trumps "America First"-Politik zu tadeln. Sie beklagten, dass er einseitig handele, "Verbündete" vergräme und in der Welt gar ein "Führungsvakuum" schaffe. Das sind auch die Losungen der kommenden Regierung.

Nur sind ihnen offensichtlich die Ereignisse vom Januar 2020 entfallen, als Trump die von Drohnen aus der Luft ausgeführte Raketenexekution des iranischen Generals Qassem Soleimani anordnete. Da gab es keine Proteste von den "Verbündeten" der USA – oder sollten wir sie lieber Vasallen nennen? Stattdessen fügten sie sich mit erstaunlicher Schnelligkeit der Washingtoner Linie.

Auch Trump billigt tatsächlich das US-amerikanische Imperium voll und ganz – er hat sich bloß all der höflichkeitsbedingten Fiktionen entledigt, mit deren Hilfe es sich im Laufe der Jahre als etwas anderes verkleidete.

Doch ironischerweise war es die Mobilisierung des gesamten politischen Establishments der USA ausgerechnet zu dem Zweck, Trump loszuwerden – beginnend mit der "Russlandaffäre", dem Amtsenthebungszirkus wegen des Telefonats mit der Ukraine, gefolgt von landesweiten Unruhen über "Rassen-Gerechtigkeit", ihrerseits nebenher erweitert um zu politischen Waffen umfunktionierte COVID-Sperren  –, welche den Löwenanteil jenes Sprengsatzes unter dem zuvor aufrechterhaltenen Mythos einer US-Hegemonie darstellten – im Inland wie im Ausland.

Erinnern Sie sich an den "Tiefen Staat", der ja angeblich eine Verschwörungstheorie Marke Trump war? Doch seine Existenz wurde im Laufe der Anhörungen zu seinem Amtsenthebungsverfahren sogar bestätigt, ein ehemaliger CIA-Direktor lobte ihn ungeniert offen, und als letztendlich ein FBI-Komplott zum Anschmieren von General Flynn entlarvt wurde, waren alle restlichen Zweifel zerstoben.

Der Kriegskampagne der Mainstream-Medien gegen Trump, der sich später auch die "Sozialen" Medien anschlossen – die rigide Zensur gegen die legitime und präzise Berichterstattung über Hunter Bidens Laptop kurz vor der jüngsten Wahl war hierfür lediglich das ungeheuerlichste Beispiel – durfte doch auch hier die ganze Welt beiwohnen. Am Ende wurde Trump – als wohlgemerkt noch amtierender Präsident – von jedem sozialen Netzwerk verbannt, und das, obwohl er sogar angekündigt hatte, seinen Posten friedlich zu räumen.

Im Grunde war das gesamte US-Establishment so sehr von dem Wunsch besessen, Trump auf dem sprichwörtlichen Scheiterhaufen zu verbrennen, dass sie das Gerüst, das ihr Imperium aufrecht hielt, zu Brennholz kleinhackten.

In einer kürzlich gehaltenen Rede schwor Joe Biden feierlich, "wieder aufzubauen und Amerikas Platz in der Welt" als den eines Landes, das "erneut für Freiheit und Demokratie eintreten wird, wieder einzufordern." Das ist eine gewaltige Aufgabe, vergleichbar damit, den Geist wieder in die Flasche einzusperren, die sprichwörtliche verschüttete Milch wiedereinzusammeln oder Humpty Dumpty (Anm.: ein zerbrechliches, kaum reparierbares menschenähnliches Ei aus einem bekannten britischen Kinderreim) wieder zusammenzusetzen.

Ironischerweise könnte das Einzige, was das Ansehen der USA in der Welt wiederherstellen könnte, darin bestehen, die US-amerikanische Republik zusammenzuflicken, die durch die vier Jahre "Widerstand" gegen Trump fast auseinandergebrochen ist. Aber da dies einen gewissen Grad an Selbsterkenntnis und Aufwand zur Seelenfindung voraussetzen würde, bleibt dies auch weiterhin wohl – sagen wir mal – nicht gerade "highly likely".

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzt aus dem EnglischenNebojša Malić ist ein serbisch-amerikanischer Journalist, Blogger und Übersetzer, der von 2000 bis 2015 eine regelmäßige Kolumne für Antiwar.com geschrieben hat und auch als Autor für RT tätig ist.

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